Nachtarbeit [1]

Nachtarbeit [1]

Nachtarbeit der gewerblichen Arbeiter ist im wesentlichen eine Folge des modernen, von der Verwendung von Maschinen und sonstigen besonderen technischen Einrichtungen begleiteten Produktionsprozesses. Sie läßt sich nicht durchaus vermeiden, da, abgesehen von den Fällen höherer Gewalt (s. Bd. 5, S. 100) und der Arbeiten im öffentlichen Interesse, dieser Prozeß vielfach eine Unterbrechung nicht zuläßt (z.B. bei kontinuierlichen Feuerbetrieben, Hochöfen u. dergl., Glashütten, Zuckerfabriken u.s.w., sodann bei den Saisonindustrien). Da aber die Nachtarbeit erhebliche Mißstände im Gefolge hat (schädliche Einwirkung auf die Gesundheit, Gefährdung der Sittlichkeit, Beeinträchtigung des Familienlebens u.s.w.), sollte sie, soweit möglich, eingeschränkt und erforderlichenfalls entsprechend geregelt werden (Schichtwechsel). Für Kinder und weibliche Arbeiter sollte sie ganz untersagt, für jugendliche männliche Arbeiter unter möglichster Hinaussetzung der Altersgrenze tunlichst beschränkt werden.

Die internationale Arbeiterschutzkonferenz zu Berlin vom Jahre 1890 erklärte es für wünschenswert, daß Kinder, welche das 14., und jugendliche Arbeiter, welche das 16. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, nachts nicht arbeiten, daß den männlichen Personen von 16–18 Jahren in betreff der Nachtarbeit Schutz gewährt werde und daß weibliche Personen, auch wenn sie über 16 Jahre alt sind, nachts nicht arbeiten – vorbehaltlich von Ausnahmen für gewisse Industrien. Demgemäß sind in allen Kulturstaaten die Nachtarbeit einschränkende Bestimmungen ergangen. Am weitesten geht hierin die Schweiz, die grundsätzlich die Nachtarbeit für alle Arbeiter, auch für die erwachsenen männlichen, verbietet. Deutschland, Frankreich, England, Oesterreich, Rußland und Belgien haben Nachtarbeitsverbote für Kinder und jugendliche Arbeiter sowie für Arbeiterinnen, Italien solche für Kinder und weibliche Arbeiter. In Deutschland dürfen nach der Reichsgewerbeordnung (§§ 136, 137) jugendliche Arbeiter (vom 13. bis 16. Lebensjahr und nicht mehr volksschulpflichtig) und Arbeiterinnen (ohne Rücksicht auf ihr Alter) nachts, d.h. zwischen 81/2 Uhr abends und 51/2 Uhr morgens, in Fabriken nicht beschäftigt werden. Dieses Verbot der Nachtarbeit gilt auch für Arbeiterinnen und jugendliche Arbeiter in Hüttenwerken, auf Zimmerplätzen und andern Bauhöfen, Werften sowie in solchen Ziegeleien, über Tage betriebenen Brüchen und Gruben, die nicht bloß vorübergehend oder in geringem Umfange betrieben werden (§ 154 Abs. 2), endlich für die in Bergwerken, Salinen, Aufbereitungsanstalten und unterirdisch betriebenen Brüchen oder Gruben beschäftigten Arbeiterinnen und jugendlichen Arbeiter (§ 154 a). Verboten ist die Nachtarbeit der Arbeiterinnen und jugendlichen Arbeiter ferner in den Werkstätten der Kleider- und Wäschekonfektion (Kaiserl. Verordnungen vom 31. Mai 1897, Reichsgesetzblatt S. 459, und vom 17. Februar 1904, Reichsgesetzblatt S. 62), den Werkstätten der Tabakindustrie (Kaiserl. Verordnung vom 21. Februar 1907, Reichsgesetzblatt S. 65, und Bekanntmachung vom 27. Februar 1907, Reichsgesetzblatt S. 66) und in den Motorwerkstätten, soweit es sich nicht um die Beschäftigung männlicher jugendlicher Arbeiter in Motorwerkstätten des Handwerks handelt, in denen in der Regel wenigstens zehn Arbeiter beschäftigt werden (Kaiserl. Verordnung vom 9. Juli 1900, Reichsgesetzblatt S. 565, Bekanntmachung vom 13. Juli 1900, Reichsgesetzblatt S. 566). Besondere Bestimmungen gelten für die Bäckereien und Konditoreien (Bekanntmachung vom 4. März 1896, Reichsgesetzblatt S. 55) und für die Getreidemühlen (Bekanntmachung vom 26. April 1899, Reichsgesetzblatt S. 273). Nicht unter das Verbot der Nachtarbeit fallen die sogenannten Familienbetriebe, d.h. solche Betriebe, in denen der Arbeitgeber ausschließlich zu seiner Familie gehörige Personen beschäftigt. Auch sonst können nach näherer Maßgabe der §§ 138 a, 139, 139 a der Gewerbeordnung bezw. der obenerwähnten Verordnungen oder Bekanntmachungen unter bestimmten Voraussetzungen Ausnahmen von dem Verbot der Nachtarbeit zugelassen werden. Dies ist seitens des Bundesrats z.B. geschehen für Konservenfabriken hinsichtlich der Beschäftigung von Arbeiterinnen über 16 Jahre (Bekanntmachung vom 11. März 1898, Reichsgesetzblatt S. 35). – Das ergänzend neben die sonstigen reichsrechtlichen Vorschriften tretende Kinderschutzgesetz vom 30. März 1903 (Reichsgesetzblatt S. 113) verbietet die Nachtarbeit (zwischen 8 Uhr abends und 8 Uhr morgens) für die im Betrieb von Werkstätten, im Handelsgewerbe und in Verkehrsgewerben, im Betrieb von Gast- und Schankwirtschaften und beim Austragen von Waren sowie bei sonstigen Botengängen in gewerblichen Betrieben aller Art beschäftigten Kinder, für die bei Botengängen u.s.w. beschäftigten eignen Kinder übrigens nur in beschränktem Umfang (Näheres s. Kinderschutz, Ziff. III, Abs. 2). Endlich sind hier noch die Bestimmungen der 139 e und 139 f der Reichsgewerbeordnung zu erwähnen, wonach offene Verkaufsstellen vorbehaltlich bestimmter Ausnahmen von 9 Uhr abends bis 5 Uhr morgens für den geschäftlichen Verkehr geschlossen sein müssen. Wenn mindestens zwei Drittel der beteiligten Kaufleute eines Ortes es verlangen, kann die Ladenschlußzeit auf 8 Uhr abends festgesetzt und bis 7 Uhr morgens verlängert werden.

[552] Unter dem 26. September 1906 wurde in Bern zwischen Deutschland, Oesterreich-Ungarn, Belgien, Dänemark, Spanien, Frankreich, Großbritannien, Italien, Luxemburg, den Niederlanden, Portugal, Schweden und der Schweiz ein internationales Abkommen über das Verbot der Nachtarbeit der gewerblichen Arbeiterinnen unterzeichnet, dem auch weitere Staaten beitreten können. Danach soll die Nachtarbeit in allen gewerblichen Betrieben, in denen mehr als zehn Arbeiter und Arbeiterinnen beschäftigt werden, jedoch mit Ausnahme derjenigen Betriebe, in denen nur Familienmitglieder beschäftigt werden, für alle Arbeiterinnen ohne Unterschied des Alters, vorbehaltlich der unten aufgeführten Ausnahmen, verboten sein. Was unter gewerblichen Betrieben zu verliehen ist, soll von jedem der vertragschließenden Staaten bestimmt werden. Jedenfalls sollen aber darin einbegriffen sein die Bergwerke und Steinbrüche sowie diejenigen Gewerbebetriebe, die sich mit der Bearbeitung und Verarbeitung von Rohstoffen befassen. Die den Arbeiterinnen zu gewährende Nachtruhe soll eine Dauer von mindestens 11 aufeinander folgenden Stunden haben, und es soll jedenfalls der Zeitraum zwischen 10 Uhr abends und 5 Uhr morgens in diese Zeit einbegriffen sein. In den Staaten, in denen die Nachtarbeit der erwachsenen gewerblichen Arbeiterinnen noch nicht geordnet ist, kann die Dauer der ununterbrochenen Nachtruhe Übergangsweise für eine Zeit von höchstens 3 Jahren auf 10 Stunden beschränkt werden. Ausnahmen sind vorgesehen für den Fall höherer Gewalt und zur Abwendung unvermeidlichen Verderbens leichtveränderlicher Stoffe. Außerdem kann in den dem Einfluß der Jahreszeiten unterworfenen Gewerben (Saisonindustrien) und bei dem Vorhandensein außerordentlicher Umstände in allen Betrieben – an 60 Tagen im Jahr – die Dauer der ununterbrochenen Nachtruhe bis auf 10 Stunden herabgesetzt werden. Besondere Bestimmungen gelten für die Kolonien und Schutzgebiete. Das Abkommen tritt 2 Jahre nach dem Schluß des Protokolls über die spätestens am 31. Dezember 1908 stattfindende Hinterlegung der Ratifikationsurkunden in Kraft. Doch wird die Frist für das Inkrafttreten auf 10 Jahre verlängert für Rübenrohzuckerfabriken, für Wollkämmereien und Wollspinnereien und für die Arbeiten über Tage in Bergwerksbetrieben, sofern diese Arbeiten für die Dauer von mindestens 4 Monaten im Jahre durch klimatische Einflüsse zum Stillstand gebracht werden. In den Staaten, die dem Abkommen beigetreten sind, sind nunmehr neue die Nachtarbeit der gewerblichen Arbeiterinnen regelnde gesetzliche Bestimmungen zu erwarten.


Literatur: v. Schönberg, Handbuch der politischen Oekonomie, 4. Aufl., Bd. 2, 2. Halbbd., Tübingen 1898, S. 39, 98 ff.; Biermer, Artikel »Nachtarbeit« im Wörterbuch der Volkswirtschaft, herausgegeben von Elster, 2. Aufl., Bd. 2, Jena 1907; Bauer, Die gewerbliche Nachtarbeit der Frauen, Jena 1903; Verhandlungsbericht der IV. Generalversammlung des Komitees der Internationalen Vereinigung für gesetzlichen Arbeiterschutz, herausgegeben vom Bureau der Internationalen Vereinigung für gesetzlichen Arbeiterschutz, Jena 1907. – S.a. die unter Arbeiter, jugendliche, Arbeiter, weibliche, Arbeiterschutz, Gewerbeordnung und Kinderschutz angeführte Literatur.

Köhler.


http://www.zeno.org/Lueger-1904.

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