Lotabweichung

Lotabweichung

Lotabweichung. Die Normalen der Geoidfläche, d.h. die tatsächlichen Lotrichtungen, weichen infolge der Unregelmäßigkeit der Massenanordnung an und unter der Oberfläche des Erdkörpers von denen der ellipsoidischen Rechenfigur um gewisse Beträge ab, die man Lotabweichungen nennt. Werden die Abweichungen bezogen auf ein dem Geoid sich am günstigsten anschmiegendes Rotationsellipsoid, das Erdellipsoid (s. Erde), dessen Achse in die Erdachse und dessen Mittelpunkt in den Erdschwerpunkt fällt, so erhält man absolute Lotabweichungen, die als Lotablenkungen bezeichnet werden ([1], 1. Teil, S. 514).

Durch synthetische Untersuchungen ([1], 2. Teil) über den Einfluß, den eine Massenzunahme oder -abnahme an oder unter der physischen Erdoberfläche durch Dichtezunahme oder -abnahme, Gebirge und Hohlräume auf die Lotrichtung eines Erdpunktes ausübt, läßt sich ein Ausdruck für die Lotstörung ableiten. Auf Grund derartiger Untersuchungen läßt sich z.B. zeigen, daß durch die Kontinentmassen Störungen der normalen Lotrichtungen im Betrage von etwa 1–1,5' eintreten können und daß z.B. für ein als massiv vorausgesetztes Gebirge, wie die Alpen, die Abweichung der Lotrichtung vom Gipfel bis zum Fuß etwa 0,5' betragen kann. Aus den für einen Gebirgsrücken, dessen Querschnitt ein gleichschenkliges Dreieck mit der Höhe h bildet, aufgestellten Formeln für die Lotstörung ist nach [1], 2. Teil, S. 301, eine rohe Schätzung der Abweichung vom Gipfel bis zum Fuß möglich nach 0,011 h in Sekunden, wodurch ein erster Begriff von dem möglichen Betrage derartiger Abweichungen gewährt wird. Auch die lokale Massenanordnung, die durch die Konfiguration des Geländes bedingt wird, das einen Messungspunkt umgibt, übt einen Einfluß auf die Lotrichtung aus. Diese Massenanordnung ist bei den[230] Lotabweichungsuntersuchungen in manchen Fällen in Rücklicht zu ziehen. Die gesamte Abweichung π wird in eine nordsüdliche und eine ostwestliche Komponente ξ und η zerlegt, für welche die Formeln aufgestellt sind in [1], 2. Teil, S. 368. – Die unmittelbare Bestimmung der Lotabweichungen durch Vergleichung der unabhängigen, astronomisch bestimmten Polhöhen φa, Längen λa und Azimute αa mit den aus den Gradmessungstriangulierungen auf dem Vergleichs- oder Referenzellipsoid berechneten Werten φe, λe, αe sowie die darauf gegründete Untersuchung der Form der Geoidfläche und der Massenverteilung innerhalb der Erdkruste durch Vergleich dieser unmittelbar beobachteten Abweichungen mit den auf dem angedeuteten synthetischen Wege berechneten Werten bilden eine der wesentlichsten Aufgaben der Erdmessung (s. Erde). Zwischen den Lotabweichungskomponenten ξ, η und den astronomischen und ellipsoidischen Polhöhen, Längen und Azimuten bestehen unter der Voraussetzung kleiner Beträge für die Abweichungen die allgemeinen Beziehungen: ξ = φa – φe; η = (λa – λe) cos φ; η = (αa – αe) cotg φ. Die beiden Gleichungen für η geben die Gleichung αaae = (λa – λe) sin φ, die man nach [2] als Laplacesche Gleichung bezeichnet und die als Probegleichung von besonderer Bedeutung ist, da sie direkt die Azimut- und Längenbestimmung zu vergleichen gestattet. Punkte, auf denen die Polhöhe sowie Längenunterschiede und Azimute bestimmt sind, nennt man Laplacesche Punkte. – Während die Polhöhenunterschiede eine unmittelbare und sehr scharfe Bestimmung der meridionalen Komponente liefern und auch die Längenbestimmung auf telegraphischem Wege eine entsprechende Genauigkeit bietet, ist wegen der Fehler der geodätischen Uebertragung die Ermittlung der Azimutabweichung mit einer größeren Unsicherheit behaftet. Daraus ergeben sich für die Anordnung der für die Lotabweichungsuntersuchungen anzulegenden Gradmessungssysteme sowie für das Rechnungsverfahren bestimmte Bedingungen, die bei der praktischen Durchführung zu beachten sind. Diesbezügliche Untersuchungen sind angestellt von Helmert ([1], 1. Teil, S. 512) und weiter ausgeführt von Helmert, Krüger und Börsch mit Anwendung auf das für Norddeutschland angeordnete und auf Zentraleuropa ausgedehnte Lotabweichungssystem [3] und [4]. Dieses astronomisch-geodätische Netz kann die Unterlage für weitere lokale Untersuchungen abgeben. – Zur schnellen Erlangung eines Aufschlusses über den Verlauf der Lotabweichungen hat Helmert die Anordnung meridionaler Profile durch das sogenannte astronomische Nivellement (s. Nivellement, astronomisches) vorgeschlagen; für lokale Untersuchungen ist die Bestimmung von Polhöhen und Azimuten ausreichend. Das Allgemeine über die Bedeutung der Lotabweichungen für die Untersuchung des Geoids und über weitere geodätische Aufgaben ist angedeutet im Art. Erde. Ferner s. besonders [1] und die angeführte spezielle Literatur. Ueber die bisherigen Ergebnisse der Lotabweichungsuntersuchungen hat Helmert fortlaufend berichtet in [5], [6] und [7]. Danach sind bisher generell untersucht ausgedehnte Gebiete in Europa, und zwar in Großbritannien und Irland, Frankreich und Belgien, Schweden und Dänemark, Deutschland, Schweiz, Oesterreich und Italien, in Südrußland (Kaukasus, Krim) sowie im Gebiet der europäischen Längengradmessung auf dem 52. Parallel; ferner in den Vereinigten Staaten Nordamerikas, in Ostindien sowie auf den Sandwichsinseln und in Südafrika. Daneben ist eine Reihe lokaler Untersuchungen durchgeführt, z. B. in Deutschland bei Leipzig [8], Berlin [9], im Harz [10], im Meridian Kolberg-Schneekoppe [11]. Ueberall haben sich Lotabweichungen gezeigt, und zwar sowohl solche mit systematischem Charakter und erheblichen Beträgen an Gebirgen (wie z.B. im Kaukasus zwei Punkte von 100 km Abstand Polhöhenabweichungen von –18'' und +36'' zeigen) als auch in ebenen Gebieten, in denen die Abweichungen weiten Strecken eigentümlich sind und somit einen regionalen Charakter annehmen (Mitteldeutschland, Nordamerika). Ebenso haben sich bei den lokalen, auf engbegrenzte Gebiete beschränkten Untersuchungen in ebenen Geländen wie Berlin und Leipzig Störungen im Betrage von mehreren Sekunden gezeigt, die auf Besonderheiten der unterirdischen Massenlagerung hinweisen. Diese Erscheinungen sowie der Umstand, daß für Gebirge, wie z.B. für den Harz, Teile der Alpen u.s.w., die empirisch bestimmten Abweichungen nicht den aus den sichtbaren Massen berechneten entsprechen, lassen auf ausgedehnte Massenanomalien innerhalb der Erdkruste schließen, die zum Teil darin ihre Ursache zu haben scheinen, daß den oberirdischen Massenansammlungen unterirdische Defekte entsprechen. – Eine kurze Abhandlung über Lotabweichungen, die für eine erste Einführung geeignet ist, enthält [12].


Literatur: Grundlegend für alle Studien über Lotabweichungen ist [1] Helmert, Mathematische und physikalische Theorien der höheren Geodäsie, 1. Teil, Leipzig 1880, besonders 12. Kap.; 2. Teil, Leipzig 1884, 4. Kap., woselbst weitere Literatur angegeben ist. – [2] Laplace, Mécanique céleste, Bd. 2, Paris 1799. – [3] Veröffentl. des Kgl. Preuß. Geodät. Instituts, Lotabweichungen, I. Heft: Formeln und Tafeln, Berlin 1886; II. Heft: Geodätische Linien südlich der europäischen Längengradmessung in 52° Breite, Berlin 1902; III. Heft: Astronomisch-geodätisches Netz erster Ordnung nördlich der europäischen Längengradmessung in 52° Breite, Berlin 1906; Beiträge zur Berechnung von Lotabweichungssystemen, Potsdam 1898. – [4] Verhandl. des wissenschaftl. Beirats der Kgl. Preuß. Geodät. Instituts, Berlin 1886. – [5] Verhandl. der Internationalen Erdmessung in Nizza 1887, 1. Beil., Berlin 1888. – Weitere Berichte sind enthalten in [6], ebend., Salzburg 1888, S. 19; Paris 1889, 6. Beil.; Freiburg 1890, S. 24; Brüssel 1892, 5. Beil., S. 506; Innsbruck 1894, S. 16; Berlin 1895, 7. Beil.; Lausanne 1896, S. 68; Stuttgart 1898, Beil. A. II, S. 257; Kopenhagen 1903, Beil. B. XVIII, S. 399. – Ueber Berechnungen für das europäische Lotabweichungssystem wird fortlaufend berichtet in den Jahresberichten [7] Bericht über die Tätigkeit des Zentralbureaus der Internationalen Erdmessung, Berlin. – [8] Verhandl. der Internationalen Erdmessung in Berlin 1886, 13. Beil., S. 218. – [9] Veröffentl. des Kgl. Preuß. Geodät. Instituts, Lotabweichungen in der Umgegend von Berlin, Berlin 1889. – [10] Desgl., Astronom. Arbeiten 1875 oder [1], 1. Teil, S. 568. – [11] Desgl., Bestimmung der Polhöhe und Intensität der Schwerkraft auf 22 Stationen von Kolberg bis zur Schneekoppe, Berlin 1896. – [12] Jordan, Handb. d. Vermessungskunde, Bd. 3, 5. Aufl., bearb. von Reinhertz, Stuttgart 1907.

(† Reinhertz) Hillmer.


http://www.zeno.org/Lueger-1904.

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