Kristalle, flüssige

Kristalle, flüssige

Kristalle, flüssige (kristallinische Flüssigkeiten, anisotrope Flüssigkeiten), ein bei einer Anzahl von Stoffen auftretender merkwürdiger Aggregatzustand, der teils die Eigenschaften des kristallinischen, teils die des flüssigen besitzt.

Die erste Erscheinung dieser Art beobachtete Reinitzer im Jahre 1888 am Cholesterylbenzoat; er fand, daß dieser in dünnen Blättchen kristallisierende Stoff bei 145,5° zu einer trüben Schmelze schmilzt, die sich erst bei 178,5° klärt. Die trübe Schmelze ist doppeltbrechend, sie stellt das Gesichtsfeld zwischen gekreuzten Nikols auf, beim Klarwerden bei 178,5° wird die Flüssigkeit isotrop. Beim Abkühlen wiederholen sich die Erscheinungen in umgekehrter Reihenfolge. Diese dann vor allem von Lehmann und später von R. Schenck eingehend studierten Eigenschaften zeigten sich bald bei einer größeren Reihe andrer Stoffe. Außer vielen Säureestern des Cholesterins stellen schöne Beispiele die para-Derivate des Anisöls und Phenetols, außer den Azoxyverbindungen die Azine des p-Oxäthylbenzaldehydes und des p-Methoxybenzaldehydes, des Anisaldehydes und die p-Methoxyzimtsäure. Die trüben anisotropen Schmelzflüsse dieser Substanzen werden besonders von Lehmann als Aggregate fließender oder flüssiger Kristalle gedeutet, also als eine Menge sich eng aneinander schmiegender, sehr weicher Kristalle. Quincke dagegen glaubt, daß die Erscheinungen zu erklären seien durch eine Flüssigkeitsschicht, die, von der umgebenden Flüssigkeit verschieden und mit dieser nicht mischbar, als flüssige Haut die festen Kristalle umhüllte; Tammann hat die Hypothese aufgestellt, daß es sich hier um eine Emulsion einer flüssigen Phase in einer andern handle, die bei weiterer Temperatursteigerung, analog wie eine Emulsion von Phenol in Wasser, bei einer bestimmten Temperatur klar wird; hiernach wäre die Aufhellung des Gesichtsfeldes zwischen gekreuzten Nikols durch Depolarisierung des polarisierten Lichtes infolge von Brechung und Reflexion an den Tröpfchen zu erklären. Diese letzteren beiden Ansichten haben jedoch wenig Wahrscheinlichkeit für sich, da eine große Zahl eingehender Untersuchungen entschieden dafür spricht, daß die trübe Schmelze nur eine Phase bildet, nämlich: die Erscheinung wird um so deutlicher, je reiner die Substanzen sind, der Temperaturkoeffizient der molekularen Oberflächenenergie hat denselben Wert wie der reiner, normaler Flüssigkeiten; gegen die Anwesenheit fester Kriställchen in der trüben Schmelze sprechen Messungen der Dielektrizitätskonstante, gegen die Emulsionshypothese erfolglose Zentrifugierversuche sowie das Mißlingen der Klärung durch elektrische Kataphorese, ferner die sprungweise Aenderung der Zähigkeit und der Dichte beim Klärungspunkt (die Zähigkeit der trüben Schmelze ist bei manchen Substanzen größer, bei andern kleiner als die der klaren Flüssigkeit). Ferner stimmt die kalorimetrisch bestimmte Umwandlungswärme beim Klärungspunkt überein mit der aus der molekularen Depressionskonstante sowie der nach der Thomson-Clausiusschen Gleichung aus der Abhängigkeit der Umwandlungstemperatur vom Drucke berechneten. Verschiedene »flüssige Kristalle« vermögen miteinander isomorphe Mischungen zu bilden. Nicht ganz so eindeutig sind die interessanten, von Lehmann untersuchten[710] optischen Eigenschaften der trüben Kristallschmelzen. Es ist hier das Verhalten der sogenannten »fließenden« Kristalle, d.h. der zähflüssigen, welche noch Kristallformen, wenn auch durch die Oberflächenspannung abgerundete, erkennen lallen, von dem der »flüssigen« mit sehr geringer Zähigkeit zu unterscheiden, wenn auch zwischen beiden Arten kontinuierliche Uebergänge vorhanden sind. Für jene ist der p-Azoxybenzoesäureäthylester das beste Beispiel; er zeigt lange, dünne, nadelförmige, an den Ecken und Kanten durch die Oberflächenspannung abgerundete Kristalle, welche einheitliche Auslöschung besitzen und im polarisierten Lichte Dichroismus zeigen. Bei Berührung fließen solche Kristalle zu größeren zusammen. Die weniger zähen Kristalle machen mehr den Eindruck von Sphärokristallen und zeigen zwischen gekreuzten Nikols schwarze Kreuze. Von den eigentlich »flüssigen« Kristallen sind einzelne »Kristalltropfen« völlig klar, im Gegensatz zu größeren aus ihnen zusammengesetzten Aggregaten; sie haben eine bestimmte innere Struktur. Ihr optisches Verhalten ist von der Richtung der Symmetrieachse dieser Struktur abhängig. Liegt sie parallel zur Beobachtungsrichtung, so beobachtet man folgende Erscheinungen: Im polarisierten Licht sind die Tropfen dichroitisch, zwischen gekreuzten Nikols sieht man bei sehr dünnen Präparaten schwarze Kreuze, bei dicken infolge der Drehung der Polarisationsebene im flüssigen Kristall farbige Kreuze. Liegt die Struktursymmetrieachse senkrecht zur Beobachtungsrichtung, so werden die Tropfen zwischen gekreuzten Nikols abwechselnd hell und dunkel. Im Magnetfelde erfahren die flüssigen Kristalle des p-Azoxyphenetols Richtkräfte. Die Ansichten über all diese Erscheinungen sind noch keineswegs völlig geklärt, doch scheint das eine immerhin jetzt sicher zu sein, daß es sich bei diesen anisotropen Flüssigkeiten um eine homogene Phase, nicht um Suspensionen oder Gemische handelt.


Literatur: Schenck, R., Kristallinische Flüssigkeiten und flüssige Kristalle, Leipzig 1905; Lehmann, O., Flüssige Kristalle, Leipzig 1904.

F. Krüger.


http://www.zeno.org/Lueger-1904.

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